Was eine Zahnarztpraxis tun kann, wenn neurodiverse MitarbeiterInnen an ihre Grenzen stoßen
Als Dozentin für Kommunikation im ZMV-Kurs bin ich auf eine unterschätzte und oft noch nicht gesehene Herausforderung in einer Zahnarztpraxis gestoßen. Wir sind beim Thema Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen im Gehirn: Die Teilnehmerinnen des Kurses schildern ihre Sicht auf den Praxisalltag und eines wird schnell deutlich – Neurodiversität.
Neurodiversität bezeichnet die Vielfalt neurologischer Funktionsweisen und Denkstile. Dazu gehören zum Beispiel Autismus, ADS/ADHS oder Legasthenie etc. – also keine Krankheiten, sondern neurologische Varianten bei der Verarbeitung von Informationen und Reizen: Menschen mit neurodivergenten Profilen erleben die Welt oft intensiver, anders strukturiert oder schneller – was in klassischen Arbeitsumgebungen, wie der Rezeption, zu Herausforderungen, auf anderen Gebieten auch zu einzigartigen Stärken führen kann.
Mitarbeiterin in Not
Das klassische Beispiel einer Mitarbeiterin: Sie sitzt an der Rezeption, ist freundlich, engagiert, schnell und irgendwie immer in Bewegung. Sie jongliert mit Terminen, Anrufen, Patientengesprächen und der Abrechnung. Doch irgendetwas bleibt immer auf der Strecke: sie fängt Aufgaben an, versucht nichts zu vergessen und allem gerecht zu werden, doch Fehler häufen sich, Aufgaben bleiben liegen, die Stimmung im Team kippt. Die Rückmeldung des Teams: „Zu laut.“ „Zu chaotisch.“ „Zu vergesslich.“ „Lieber nicht so viel Reden und mal was fertig machen!“
Was hier passiert, ist kein Einzelfall – sondern ein häufiger Notfall für die Mitarbeiterin und die Praxis – die Mitarbeiterin ist neurodivergent. Sie hat ADHS. Und sie hat Angst: Wenn sie das offenlegt, fürchtet sie noch mehr Rückzug, Ausgrenzung und Ablehnung ihres Umfeldes.
Rezeption: Der stressigste Platz in der Praxis?
Die Rezeption ist die Schaltzentrale jeder Zahnarztpraxis. Hier laufen Kommunikation, Verwaltung und Organisation zusammen – eine hohe Taktung, ständige Unterbrechung, ein hoher Geräuschpegel und dazu die steigende Erwartungen der PatientInnen. Auch gibt es digitale Planung, Ablaufpläne und Checklisten. Und trotzdem wird es chaotisch. Warum?
Weil das System nicht für neurodivergente Gehirne gemacht ist. Menschen z.B. mit ADHS, erleben die ständige Reizflut anders, können Informationen schlecht abpuffern und filtern, springen gedanklich schnell, priorisieren anders und handeln impulsiv. Was von außen aussieht wie Unzuverlässigkeit oder Nachlässigkeit, ist in Wahrheit oft der Versuch, in einer Überforderung zu funktionieren.
Was bedeutet ADHS im Arbeitskontext wirklich?
ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – ist keine Konzentrationsschwäche. Es ist eine andere Art, Reize zu verarbeiten, Prioritäten zu setzen und die eigene Energie zu steuern. Menschen mit ADHS sind oft:
- sehr schnell im Denken, aber weniger konstant im Handeln
- sehr empathisch, aber emotional überwältigt bei Kritik
- kreativ und ideenreich, aber unstrukturiert in der Umsetzung
- impulsiv, aber mit echtem Wunsch zu helfen und mitzudenken
In einem Arbeitsumfeld mit ständigem Input, wenig Pausen und hohen sozialen Anforderungen geraten sie an ihre Grenzen – und oft auch in soziale Isolation.
Der Preis des Maskierens
Im Rahmen eines ZMV-Kurses schilderte mir eine Teilnehmerin eindrücklich, mit welchen Herausforderungen sie als ADHS-betroffene Mitarbeiterin im Praxisalltag konfrontiert ist. Besonders prägend war ihre Erfahrung mit einem Wunsch nach Rückzugsraum: Sie bat darum, häufiger im Backoffice arbeiten zu dürfen, um sich besser konzentrieren zu können. Doch die Reaktion des Praxisinhabers lautete sinngemäß: „Dann bist du ja nicht mehr für andere ansprechbar.“ Damit wurde ihr klar: Die Rahmenbedingungen, die sie gebraucht hätte, um gute Arbeit zu leisten, wurden ihr nicht zugestanden. Stattdessen blieb sie dauerhaft im Überreizungsmodus – mit allen Folgen für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Teamdynamik.
Die betroffene Mitarbeiterin weiß um ihre Besonderheiten. Sie merkt, dass sie anders reagiert als ihre Kolleginnen. Sie redet viel, sie unterbricht, sie fängt vieles gleichzeitig an. Sie strengt sich an, „normal“ zu wirken. Doch dieses Maskieren hat seinen Preis: Erschöpfung, Rückzug, Angst vor Fehlern, Angst vor Ablehnung.
Im Team hingegen fehlt das Verständnis – wie auch! Es gibt bisher keine Informationen über Neurodiversität. Keine Sprache dafür. Nur Irritation, Getuschel und Frustration. Die Kolleginnen fühlen sich gestört oder übergangen, die Leitung weiß nicht, wie sie die Situation klären kann, ohne zu eskalieren.
Was kann die Praxis tun? Der Weg zu mehr Transparenz und Verständnis
1. Wissen schaffen
Der erste Schritt ist Aufklärung. Praxisleitungen und Führungskräfte sollten sich mit dem Thema Neurodiversität vertraut machen. Schulungen oder externe Beratung können helfen, Neurodivergenz wie ADHS nicht als „Störung“, sondern als eine andere Form von Wahrnehmungsvielfalt zu verstehen.
2. Verständnisfördernde Gespräche initiieren
MitarbeiterInnen sollten in einem geschützten Rahmen die Möglichkeit haben, über ihre Erfahrungen zu sprechen – ohne Angst vor Konsequenzen. Auch ohne formelle Offenlegung kann die Leitung auf Signale reagieren: „Was brauchst du, um konzentrierter arbeiten zu können?“ statt „Warum machst du das nie fertig?“
3. Arbeitsbedingungen anpassen
- Möglichkeiten zur reizarmen Pause schaffen (z. B. kleiner Ruheraum oder „10 Minuten Stille“)
- Aufgaben klar strukturieren, visuell unterstützen (To-do-Boards, Timer, Erinnerungen etc.)
- Feste Zeitfenster für bestimmte Aufgaben schaffen
- Offene Kommunikation im Team etablieren: Wer braucht was, um gut arbeiten zu können?
- Wertschätzende Grundhaltung leben: Ich bin ok – Du bist ok und wer z.B. unterbricht, macht das nicht aus Respektlosigkeit etc.
4. Team-Sensibilisierung
Ohne „outing“ der betroffenen Person kann das Team durch Workshops oder Impulsvorträge mehr über Neurodivergenz z.B. bei ADHS lernen. Ziel: Offenheit für menschliche Unterschiedlichkeit, nicht Pathologisierung.
5. Feedback neu denken
Bei ADHS wirkt Feedback oft intensiver. Deshalb: konkrete Verhaltensweisen, wertschätzend und lösungsorientiert. Und: Lob nicht vergessen. Neurodivergente Menschen hören sehr viel, was nicht klappt. Das verzerrt das Selbstbild.
Fazit: Neurodiversität ist kein Risiko, sondern eine Ressource
Eine Mitarbeiterin mit ADHS kann ein großer Gewinn für eine Zahnarztpraxis sein: kreativ, anpackend, mitfühlend, hochmotiviert. Aber nur, wenn die Bedingungen stimmen. Nicht jede Praxis kann sich umstellen – aber jede kann anfangen, den Unterschied zu verstehen.
Transparenz beginnt mit einer Haltung: Von „Was stimmt nicht mit ihr?“ hin zu „Was braucht sie, um ihr Potenzial zeigen zu können?“
Tipp für dich als Praxisleitung: Wenn sichtbar wird, dass eine Mitarbeiterin sich anders als neurotypisch „normal“ verhält, frage dich: Könnte es eine andere Art sein, die Welt wahrzunehmen? Und was wäre, wenn diese Art sogar ein Gewinn für die Praxis sein könnte?
Als kleine Hilfe findest du auf meiner Webseite einen Leitfaden für ein Reflexionsgespräch. So könnt ihr gemeinsam in den Austausch gehen und Lösungsmöglichkeiten für eine reizärmere Arbeitsatmosphäre finden.
Wenn du dir auf diesem Weg Begleitung für dich und dein Team wünschst – melde dich gern.
Bild: pressfoto / freepik.com

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